gipfelinfo 8.5.2002
öffentlicher rundbrief der infogruppe [berlin]
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--- ÜBER DEN PERSÖNLICHEN UND KOLLEKTIVEN UMGANG MIT
TRAUMATISIERUNG ---

Misshandlung und Folter in Genua

Der folgende Text basiert auf einem Referat, das
kurz nach den Protesten in Genua von einer
Psychologin auf einer Veranstaltung in Zürich
gehalten wurde. Das Skript ist von nicht
psychotherapeutisch ausgebildeten Laien
ausformuliert worden. Dennoch wollen wir es
veröffentlichen, da es ansonsten kein verfügbares
Material für von Traumatisierung Betroffene gibt
(nicht nur in Genua!).

Die Gewalt, mit der wir zum Beispiel in Genua
konfrontiert wurden, darf nicht einfach aus unseren
Zusammenhängen ausgegliedert und den einzelnen und
ihrem Umfeld als individuelles Problem überlassen
werden. Anstatt einfach entsetzt und hilflos zu
reagieren, möchten wir versuchen, die ganze
Problematik auch in einem politischen Rahmen zu
thematisieren - als Unterstützung für die
Betroffenen und als Suche nach einem gemeinsamen
Umgang. Denn die Repression gilt uns allen.

Zunächst geht es darum zu verstehen, um was es hier
genau geht - politisch und psychologisch.

Was ist eine Traumatisierung durch menschliche
Gewalt?
Wenn Menschen über kürzere oder längere Zeit
menschlicher physischer und psychischer Gewalt
ausgesetzt sind, mehr oder weniger unerwartet, mit
wenig bis sehr wenig Möglichkeiten, etwas dagegen zu
tun, löst dies extreme Ohnmachtgefühle, Todesängste
und Verzweiflung aus, aber auch Desorientierung
bezüglich der eigenen Wahrnehmung - z.B. dass man
sich und andere richtig einschätzen kann, Vertrauen
in die Menschlichkeit. Diese Basics, auf die man
sich existentiell verlassen können sollte, werden
zerstört, von den Folterern missbraucht. Ein
Beispiel: Wird der/die Betroffene vom Folterer
geprügelt, anschließend getröstet und dann weiter
geschlagen, dann kann dies eine Traumatisierung zur
Folge haben, das bedeutet, die Betroffenen haben
Mühe, nachträglich mit dem Erlebten Zugang zu
kommen. Es treten u.U. Folgeerscheinungen auf, die
bestenfalls einige Tagen oder Wochen andauern,
schlimmstenfalls aber auch das ganze weitere Leben
prägen können.

Was sind die Auswirkungen?
Die Auswirkungen können sehr verschieden sein,
abhängig von der Situation und der Art der erlebten
Gewalt, von der Dauer des Ausgeliefertseins und
teilweise auch von der Befindlichkeit der
betroffenen Person:
'Normal' ist, dass das Ganze immer wieder wie ein
Film abläuft, man vielleicht sogar das Gefühl hat,
durchzudrehen. Dass man Schlafschwierigkeiten hat.
Dass man zusammenzuckt, Ängste hat oder Panik
bekommt, wenn irgend etwas einem an eine Situation
erinnert: eine laute Stimme, ein Polizist an einer
Demo; Die Reaktionen können sehr individuell sein.
Sie sind erklärbar als Versuch des 'menschlichen
Systems' das Erlebte wenigstens nachträglich unter
Kontrolle zu bekommen, resp. nie die Kontrolle zu
verlieren, um niemals wieder in eine ähnliche
Situation zu kommen (Schlafstörungen!).

'Normal' ist ebenfalls, dass man sich beschuldigt,
sich falsch verhalten zu haben; auch Gefühle der
Verzweiflung und der Sinnlosigkeit können vielfach
auftreten - alles macht keinen Sinn mehr.
Mit 'normal' ist gemeint, dass man/ frau nicht
spinnt, nicht am durchdrehen ist, wenn diese Gefühle
auftreten; es bedeutet nicht, dass diese einfach zu
verkraften sind!
Alle diese Symptome gehen mit der Zeit zurück,
werden schwächer. Es kann einem aber auch einige
Zeit gut gehen und dann fährt plötzlich wieder alles
ein. Sie können auch ein paar Jahre später plötzlich
wieder ausgelöst werden - das ist auch 'normal'.
Obwohl alle diese Reaktionen 'normal', also typisch
sind für eine Traumatisierung, heißt das nicht, dass
der/die Betroffene allein damit fertig werden kann.
Wendet Euch unbedingt an professionelle
Unterstützung (PsychotherapeutIn), wenn ihr den
Eindruck habt, das sei alles zuviel, beeinträchtige
Eure Lebensqualität.

Zusammenfassung des Gewaltgeschehens in Genua

In der Stadt
* zwei Tage bürgerkriegsähnliche Riots
* Massenmobilisierung auf den Straßen
* eingekesselt sein
* CS-Gas-Überdosen
* Schüsse oder die Androhung davon/auf Personen
gerichtete Schusswaffen.
* Razzia in der Diaz-Schule (unerwartet mitten in
der Nacht von der einfahrenden Polizei massivstens
zusammengeschlagen werden, oder dies miterleben, die
Verletzten sehen)
* Razzia im IMC
* auf der Straße willkürliche Festnahmen und
Schikanen
* ständige Angst vor Zivilpolizei

auf Polizeiposten/ in den Spitälern
* offen faschistischer Terror (Hitlergruss, Sprüche,
Bilder, Tätowierungen)
* sexistischer Terror (Vergewaltigungsdrohungen,
Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen im Beisein
der Polizei oder zusätzlich durch einen Mann), auch
gegenüber Männern
* systematische Folter: mit erhobenen Händen
stundenlang stehen, wieder hoch geprügelt werden, zu
Faschogruss etc. gezwungen werden, Haare
abschneiden, prügeln-trösten-prügeln, damit spielen,
dass Leute nichts verstehen

Wir sprechen von systematischer Folter
* Die Gewalt wurde begangen von Leuten, die
offensichtlich dazu ausgebildet wurden und sie
profi-mässig handhabten. Es waren nicht einfach
Aggressionsausbrüche von Polizisten. Es ging darum:
Wie macht man den Gegner/in systematisch fertig,
demütigt sie, zerbricht ihre Identität. Indem man
ihn/sie dazu bringt, Sachen zu machen oder zu sagen,
die er/ sie sonst nie tun würde, gegen die eigene
Überzeugung zu handeln. Indem sie durchblicken
lassen, dass du nicht mehr zählst, nur noch
ausgeliefert bist, dass sie über dich bestimmen,
über Leben und Tod und Schmerz. Indem sie die Leute
mit Händen nach oben stehen lassen und sie wieder
hoch prügeln. Indem sie mit deinen Gefühlen spielen,
deinem Bedürfnis nach Trost, nach aufgehoben sein:
all das sind typische altbekannte Foltermethoden.
* Die italienische Polizei hat eine entsprechende
Geschichte. Bereits in der Bewegung der 80er Jahre
wurde systematisch gefoltert - nicht nur der
"militante Kern", sondern auch ein breites Umfeld.
* Kurz vor dem Gipfel in Genua wurde die Zeit, die
jemand in Polizeigewahrsam behalten werden kann, auf
4 Tage verlängert. Erst dann muss der/ die
Festgenommene dem Untersuchungsrichter vorgeführt
werden. In dieser Zeit wird der Polizei die
Möglichkeit gegeben, zu misshandeln oder zu foltern.
ABER: diese Zeit ist begrenzt. Es geht also immer
auch darum, diese Zeit zu überstehen. Im Moment des
gefoltert werden ist es sehr wichtig zu wissen, dass
sie nicht unendlich weitermachen können.

Einige Ziele der Folter
* Infogewinnung (in Genua eher nicht der Fall)
* Einschüchtern, Todesangst auslösen, Demütigen,
Identität als Widerständige zerbrechen: Sachen
machen, die man sonst nie machen würde, z.B.
Faschogruss, Haare abschneiden,
Blankounterschriften.
* Keinem Verhalten kann mehr getraut werden, das
Verhalten der Folterer ist nicht berechenbar (z.B.
Trösten), aber auch sprachliches Nichtverstehen.
Dies führt zum Verlust sämtlicher inneren und
äußeren Koordinaten einer Person, das Verhalten der
anderen ist nicht mehr berechenbar/verstehbar und
damit zum Gefühl totalem Ausgeliefertseins.
* Geschlechtspezifisch: Erniedrigen der Person in
ihrer Geschlechtsidentität als Frau/Mann, der
sexuierte Körper ist den Blicken und der
Verfügungsgewalt der Folterer ausgesetzt.
* Abschrecken des Umfeldes: Was geschehen ist,
markiert letztlich alle, diejenigen, die ebenfalls
in Genua waren und letztlich die ganze Bewegung. Es
löst Entsetzen, Angst und Wut aus

Folter/ Gewalt ist nicht sinnlos, sondern
zielgerichtet und wirkt
* auf persönlicher Ebene, indem es die Betroffenen
traumatisiert,
* evtl. auch geschlechtsspezifisch: Frauen eher
eingeschüchtert, Männer machen möglichst schnell
weiter ohne auf Befindlichkeit zu achten
* evtl. Gefühle der Sinnlosigkeit
auf kollektiver und politischer Ebene, indem es uns
entsetzt, absorbiert, abschreckt - einfährt indem es
uns stark beschäftigt, besetzt und damit auch lähmt.
Die Staatliche Gewalt soll unser Handeln in eine von
der Gegenseite gewollten/bestimmten Richtung lenken.

Womit sie genau erreicht haben, was sie wollten.
Deshalb müssen wir das Geschehene aufgreifen. Wir
können nicht verhindern, dass es auf uns einwirkt,
aber um so wichtiger ist es, einen Umgang damit zu
finden; politisch, kollektiv, aber auch als
individuelle Person. Auch im Hinblick auf Davos 2002
und auf weitere Anlässe. Ein kollektives sich Wehren
gegen diese Gewalt verstanden als gemeinsamer
Prozess gegen die Vereinzelung.

Die verschiedenen Möglichkeiten
* Aktionen, Demos, Diskussionen wie es politisch
weitergeht.
* Im Zusammenhang mit der Gewalt und der Folter
wissen, was eine Traumatisierung ist, wie sie sich
auswirkt, wie Betroffene, aber ebenso wichtig,
diejenigen, die mit ihnen zusammen sind, das
Geschehene bewältigen können.
Dazu gehört auch ein Angebot von Beratung durch
Fachleute, die aber auch politisch klar sind.
* Gedächtnisprotokolle haben verschiedenen
Funktionen: Verarbeitung, ZeugInnenfunktion. Wissen
um Polizeieinsatz, Methodik, Wissen um systematische
Folter. Darum ist es wichtig, Gedächtnisprotokolle
zu erstellen. Dies betrifft nicht nur diejenigen,
die dran gekommen sind, sondern alle: was haben sie
gesehen? Dies ist auch Teil eines kollektiven sich
Wehrens, geht es doch auch darum, sich für die
Prozesse zu rüsten; nicht nur diejenigen der
Schweizer, sondern von allen, gegen die sie Anklage
erheben werden.

Was ist jetzt, kurz nach dem Geschehen, für die
Gewaltbetroffenen wichtig?
Nicht krampfhaft versuchen, alles wegzustecken.
Zulassen, wenn das Geschehene hochkommt. Sich Hilfe
holen. Immer wieder darüber sprechen, wenn es einem
hilft. Nicht mehr darüber sprechen, wenn man nicht
mehr mag.
Es geht darum Abstand zu gewinnen, und das braucht
Zeit. Mit der Zeit nehmen die Symptome ab. Wichtig
ist, auf das eigene Gefühl zu hören, was jetzt für
einen stimmt/ das richtige ist und was einem jetzt
überfordern würde.
Wenn andere so massiv über einen bestimmt haben, ist
es nun ganz zentral, wieder selbst zu bestimmen, was
man machen will, also keinem inneren oder äußeren
Druck nachgeben, was man jetzt machen müsste! Bei
Demos, Aktion etc. genau überlegen, wie viel man
sich zutraut, wo im Moment die Grenze ist.
Irgendwann sind auch Ruhe und Erholung angesagt. Gut
ist das Zusammensein miteinander, darüber sprechen
können, wenn frau/ man will.
Aber, sehr wichtig: auch versuchen, in den Alltag
zurückkehren. Also nicht zulassen, dass es den
Gewaltausübenden gelingt, unsere Identitäten auf
'Gefolterte' zu reduzieren. In den Alltag
zurückkehren heißt auch, zu merken, dass da noch
andere Identitätsanteile sind, andere Lebensinhalte/
politische Inhalte. Diese sollten nicht alle, als im
Verhältnis zum Geschehenen unwichtig, auf die Seite
geschoben und abgewertet werden. Sie sind diejenigen
Bereiche, wo ihr Euch als lebendig, als fähig
erleben könnt, die euch auch etwas ablenken. Das
gibt Stärke!
Holt euch Hilfe von ausgebildeten Fachpersonen. Das
könnt ihr einzeln, aber auch zu Zweit oder in
Kleingrüppchen machen.

Für FreundInnen: Den Gewaltbetroffenen Zuhören und
ihre Befindlichkeit akzeptieren und nicht wegreden
und bagatellisieren. Nicht bedrängen mit Vorschlägen
('du musst/ solltest' etc.), aber auch nicht
Händchen halten. Keine abhängigkeits-wiederholenden
Infantilisierungen. Die Betroffenen
sollen/können/müssen selbst entscheiden, was sie für
sich richtig halten in dieser Situation. Sich
ebenfalls fachliche Hilfe holen, wenn's einem über
den Kopf wächst.

Zürich, Juli 2001

INFOGRUPPE BERLIN
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